Raissa Gorbatschowa: Die Welt ahnt nicht, was sie dieser Frau verdankt!
von Leo Ensel
Der neue jugendliche Held, der Mitte der Achtziger Jahre plötzlich auf der politischen Bühne der anderen Seite der Welt aufgetaucht war und alle in Staunen versetzte, war nicht allein. Ihm stand eine Frau zur Seite, die überall die Aufmerksamkeit auf sich zog: klug, gebildet, attraktiv. Eine Frau, die, auch wenn sie sich bei öffentlichen Auftritten eher dezent im Hintergrund hielt, großes Selbstbewusstsein ausstrahlte. Ebenso sicher wie ihr Auftreten war, wie nicht zuletzt ihre Kleidung verriet, ihr Geschmack. Solch eine sowjetische First Lady hatte die Welt noch nicht gesehen. – Falsch: Sie war die erste und einzige sowjetische First Lady überhaupt!
Liebe an der Macht
Und die beiden strahlten etwas aus, was man nicht nur in Politikerkreisen äußerst selten antrifft: Es war unübersehbar, dass sie eine tiefe Liebe verband! Man sah die Hochachtung, die der neue Generalsekretär seiner Frau entgegenbrachte. Und man glaubte die Unterstützung, die Energie förmlich zu spüren, die er durch sie erhielt. Ein Chef der feindlichen Supermacht, die eben noch vom amerikanischen Präsidenten als "Reich des Bösen" bezeichnet worden war, der liebevoll seinen Arm um seine Gattin legt; Raissa, die ihren Kopf vertrauensvoll an dessen Schultern schmiegt. Im Hintergrund Tochter Irina mit Mann. Und vorne kuschelt sich Enkelin Xenia zu Füßen ihrer Großeltern.
Langsam gewöhnte die westliche Welt sich an die sensationelle Neuigkeit, dass auch russische Frauen elegant aussehen können. Raissa Gorbatschowa bewegte sich mit einer Selbstverständlichkeit und einem Selbstbewusstsein unter den Prominenten der westlichen Welt, als hätte sie niemals woanders gelebt. Aber es war nicht Glamour, der ihre Attraktivität ausmachte. Klugheit und Bildung verbanden sich mit der Eleganz dieser Frau und brachten ihr überall Respekt ein. Legendär, wie die Philosophieprofessorin einmal während eines Museumsbesuches in Washington Nancy Reagan korrigierte, nein: belehrte! Nicht wenige im Westen konnten sich damals ein gewisses schadenfrohes Grinsen nicht verkneifen.
Wir wussten, dass sie es im eigenen Lande nicht leicht hatte. Viele Menschen in der Sowjetunion waren nicht etwa stolz, solch eine kultivierte Persönlichkeit als First Lady an der Spitze zu haben, sie neideten ihr vielmehr ihre Schönheit, ihre Bildung, ihr selbstbewusstes Auftreten. Wir aber in Deutschland drückten diesem Ehepaar, das nichts Geringeres war als unsere personifizierte Hoffnung auf eine bessere Welt, auf eine Welt ohne die brandgefährliche Ost-West-Konfrontation, auf eine Welt, endlich befreit von der Atomkriegsgefahr und den erdrückenden Lasten des Wettrüstens – wir drückten diesem in Liebe verbundenen Paar alle unsere Daumen!
Bilder
Bilder, die sich in unser westdeutsches Gedächtnis eingegraben haben: der triumphale Empfang, den die enthusiastisch "Gorbi! Gorbi!" rufende Bonner Bevölkerung den beiden im Juli 1989 bereitete. Raissa auf dem Balkon des Bonner Rathauses, wie sie den kleinen, vielleicht vier Jahre alten Sebastian entdeckte, der schick gekleidet – und, wie es schien, ohne Eltern – mit einem Blumenstrauß vor der Treppe stand; wie sie in Angst, der Kleine könnte von der Menge erdrückt werden, die Stufen hinuntereilte, ihn auf den Arm nahm, mit ihm zurück nach oben ging und ihn ihrem Mann hinüberreichte. Alle lachten, alle winkten, allen stand die Erleichterung ins Gesicht geschrieben: Das also waren unsere "Feinde", deretwegen wir noch kurz zuvor beinahe einen Atomkrieg riskiert hätten!
Die Strickjackenszene im kaukasischen Archys ein Jahr später. Die Mauer war gefallen, Gorbatschow machte den Weg für die deutsche Vereinigung frei. Er ließ dem vereinten Land sogar die Freiheit, das Militärbündnis selbst zu wählen. Mehr Entgegenkommen von sowjetischer Seite war unmöglich! Genscher, Gorbatschow und Kohl auf Baumstümpfen am Fluss. Und zwischen ihnen Raissa in einem langen blauschwarzen Cardigan. So zauberleicht ging der Kalte Krieg zu Ende.
Dann der 21. August 1991. Die Rückkehr aus Foros auf der Krim unmittelbar nach dem gescheiterten Putsch. Der sichtlich mitgenommene sowjetische Präsident, in Moskau nun fast Neuland betretend, empfangen von seinen Verrätern. Ein paar Meter hinter ihm auf der Gangway seine Ehefrau, die ihren Arm schützend um Enkelin Xenia legte. Man sah ihr an, dass sie gezeichnet war. Später hieß es, sie habe zahlreiche private Dokumente vernichtet – aus Angst, der KGB könne ein weiteres Mal zuschlagen.
Leukämie
Das erste Mal, dass ich Michail Gorbatschow persönlich sah, war im Herbst 1997 in Bremen. Er hielt die Eröffnungsansprache zu einem Festival des russischen Films. Ohne seine Frau. Ihr ginge es gesundheitlich nicht gut, war die offizielle Erklärung.
Schließlich die schockierende Nachricht im Juli 1999. Die 67-jährige Raissa Maximowna in Deutschland – im Universitätsklinikum Münster! Diagnose: Akute myeloische Leukämie. Eine Welle von Mitgefühl durchwogte unser Land. Und, wie man hörte, erhielt sie nun auch zahlreiche Genesungswünsche aus Russland – dem Land, in dem sie lange Zeit sehr distanziert betrachtet, gar angefeindet worden war. Mein großer Blumenstrauß, den ich ihr in hilfloser Verehrung und Verzweiflung in die Klinik schickte, konnte sie auch nicht retten.
Die Beerdigung auf dem Novodewitschi-Friedhof in Moskau. Es war herzzerreißend, es am Bildschirm miterleben zu müssen: Der große Held, der die kommunistische Diktatur besiegt, die gefährlichste Waffenkategorie verschrottet, 80 Prozent aller Atomsprengköpfe weltweit vernichtet, der Welt die akute Atomkriegsangst genommen, seinem Land Freiheit und Demokratie verschafft, die Mauer zum Einsturz gebracht und den Völkern Osteuropas die Unabhängigkeit geschenkt hatte, der Visionär des "Gemeinsamen Europäischen Hauses" – dieser Ausnahmepolitiker und -mensch seiner über alles geliebten Frau beraubt! Wie er sie, bis ins Innerste erschüttert, ein letztes Mal umarmte und küsste, bevor der Sarg verschlossen wurde. Er wirkte wie amputiert. Und dieser Mann erwies sich auch im tiefsten Leid als außergewöhnlich stark: Stark genug, sich vor den Augen der ganzen Welt seiner Tränen nicht zu schämen.
Jedes Mal, wenn ich seitdem in Moskau war, besuchte ich das Grab mit der schönen Skulptur einer jungen Frau auf dem Prominenten-Friedhof des Neujungfrauenklosters.
"Sie wissen hoffentlich, was mein Mann riskiert!"
Mit Michail Sergejewitsch und Raissa Maximowna hatten sich ein Mann und eine Frau gefunden, die nicht nur in Liebe, sondern auch in einem intensiven geistigen Austausch miteinander engstens verbunden waren. Was werden die beiden die vielen Jahre über auf ihren zahllosen langen Spaziergängen bei Wind und Wetter, wo sie sich vor den Abhörwanzen des KGB sicher fühlten, besprochen haben? Welche Ratschläge wird Raissa Maximowna ihrem Mann in den stürmischen Zeiten von Perestroika und Glasnost gegeben haben? Und wie viel von Gorbatschows epochalem Neuen Denken wird wohl von der Philosophieprofessorin Raissa angeregt worden sein? Vermutlich viel mehr, als die Welt ahnt!
Lassen wir dem langjährigen deutschen Außenminister Hans-Dietrich Genscher, der nochmals von der berühmten Kaukasus-Szene berichtet, das letzte Wort: "Auf dem Weg zu dem Ort mit den Baumstümpfen legte sich plötzlich eine Hand in meine Hand. Das war die Hand von Frau Gorbatschowa, die sich mir von hinten angenähert hatte, mich etwas zurückzog, um mit mir zu sprechen. Sie sagte zu mir: 'Herr Genscher, Sie wissen hoffentlich, was mein Mann riskiert! Es wird ganz wichtig sein, dass Deutschland alle seine Verpflichtungen, die Sie übernehmen, auch einhält!' Und ich antwortete:'Wir wissen das sehr wohl.' – Das war die Sorge einer Frau, die mit großem politischen Verständnis auch die Risiken dieser Entwicklung für Gorbatschow richtig einschätzte und die nun auf einer ganz persönlichen Grundlage helfen und uns bewusst machen wollte, was das bedeutete."
Die Deutschen mögen selbst einschätzen, ob ihr glücklich wiedervereintes Land Wort gehalten hat!
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