Nicaraguas Klage schlecht vorbereitet – dennoch zeigt sie Deutschlands Heuchelei
Von Alexej Danckwardt
Am Montag und Dienstag wurden am Internationalen Gerichtshof der Vereinten Nationen (IGH) in Den Haag die mündlichen Vorträge in dem Klageverfahren Nicaraguas gegen Deutschland gehalten. Wie bekannt, beschuldigt der lateinamerikanische Staat Berlin, es habe gegen völkervertraglich übernommene Pflichten verstoßen, Völkermord zu verhindern, und unterstütze Israel sogar bei dem mutmaßlichen Genozid der Palästinenser und bei Kriegsverbrechen im Gazastreifen.
Am Montag hatten Nicaragua und seine Vertreter das Wort, am Dienstag erwiderten von Deutschland beauftragte Diplomaten und Juristen mündlich auf die Klage. Vorerst geht es "nur" darum, ob der IGH wie im Fall Südafrika gegen Israel provisorische Maßnahmen verhängen soll, doch ausgetauscht wurden bereits jetzt Argumente, die die Hauptsache selbst betreffen, und so kann man schon heute einiges zu den Aussichten der Klage sagen.
Ausgangspunkt ist Artikel 1 der Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes aus dem Jahr 1948 (im Folgenden "Völkermordkonvention"). Er lautet:
"Die Vertragschließenden Parteien bestätigen, dass Völkermord, ob im Frieden oder im Krieg begangen, ein Verbrechen gemäß internationalem Recht ist; sie verpflichten sich zu seiner Verhütung und Bestrafung."
Und genau gegen die Verpflichtung, Völkermord zu verhüten, ihn mit anderen Worten zu verhindern, verstößt Deutschland nach Auffassung des Klägers aus Lateinamerika im Falle des Krieges im Gazastreifen aktuell und laufend.
Wie die Richter entscheiden werden, ist weiter offen, haben sie doch in den letzten Monaten durchaus Mut gezeigt und überraschend mehrmals gegen die Meinung des kollektiven Westens entschieden, sowohl zum Gaza-Krieg als auch in Verfahren der Ukraine gegen Russland.
Leider macht die Klage Nicaraguas im Ergebnis der mündlichen Anhörung diese Woche den Eindruck, schlecht vorbereitet und überstürzt erhoben worden zu sein. Offensichtlich gab es in ihrem Vorfeld keinen, jedenfalls keinen intensiven Austausch diplomatischer Noten zwischen Managua und Berlin, sodass die Anwälte des Letzteren sich jetzt im Gerichtssaal darauf zurückziehen können, dass es auch keinerlei Rechtsstreit – keine unterschiedliche Auslegung des Völkerrechts – gibt. Und damit auch keinen Rechtsweg zum höchsten Gericht, das darüber entscheidet, was Völkerrecht ist.
Auch die Aufarbeitung der faktischen Basis der Klage, das Fact-Finding wie das Beschaffen von Beweismitteln, hat Managua offenbar nachlässig betrieben.
Deutschland zieht in seiner Argumentation alle Register, und vieles davon ist absurd – so die Auffassung, dass der Prozess ohne Beteiligung Israels nicht stattfinden könne. Die Pflicht, Völkermord entgegenzuwirken, gilt für jeden Unterzeichnerstaat der Völkermordkonvention und wirkt universell, unabhängig davon, wo der Genozid geschieht und wer ihn begeht. Die gerichtliche Überprüfung der Achtung dieser sekundären Pflicht kann nicht davon abhängen, ob der unmittelbare Völkermörder sich dazu herablässt, im Gerichtssaal zu erscheinen.
Ebenso in hohem Maße widersinnig waren die Ausführungen eines der von Deutschland beauftragten Juristen dazu, dass die Pflicht zur Verhütung von Genozid erst dann vor Gericht eingeklagt werden könne, wenn der Völkermord bereits erwiesen sei. Das ist eine Nebelkerze, auf die Deutschlands Verteidigungsstrategie jedoch großen Wert legte. Widersinnig ist das Argument schon deshalb, weil die Pflicht, einen Genozid zu verhindern, keinen Sinn ergibt, wenn sie erst dann einsetzt, wenn der Völkermord schon geschehen ist. Sie muss notwendigerweise viel früher, bei ersten Anzeichen, vielleicht sogar bei verbalen Bekundungen einer Absicht einsetzen. Entsprechend kann vor dem IGH auch darüber gestritten werden, wann genau dieser frühe Zeitpunkt ist und was genau der Unterzeichnerstaat der Konvention wann hätte tun müssen.
Aber Berlin hatte auch starke Argumente im Koffer. Argumente, die einerseits die Klage Nicaraguas zu Fall bringen können – die aber andererseits politischer Zündstoff sind und die Heuchelei der deutschen verbalen Unterstützung für Israel offenlegen. Argumente, die Israelkritikern auf unerwartete Weise Recht geben.
Die nachfolgende Grafik war den Anwälten Berlins so wichtig, dass sie sie gleich dreimal den Richtern und dem Publikum im Saal und vor dem Bildschirm präsentierten.
Glaubt man den Vertretern Deutschlands, so zeigt sie die Entwicklung der Genehmigungen deutscher Waffenexporte nach Israel seit Oktober letzten Jahres. Wie man sieht, ist das Volumen genehmigter Lieferungen von 203 Millionen Euro im Oktober 2023 über 24 Millionen im November auf weniger als eine Million Euro im Februar des laufenden Jahres gefallen. Und, so der deutsche Prozessbevollmächtigte ausdrücklich, im Oktober war sie nur deshalb so hoch, weil man da noch nicht wusste, wie das Vorgehen Israels aussehen wird. Zudem habe man damals noch unter Eindruck des Hamas-Überfalls am 7. Oktober gestanden.
Aus dem verklausulierten Juristenenglisch in verständliches Deutsch übersetzt, bedeutet dies nichts anderes als:
"Wir sehen, dass in Gaza etwas gewaltig schiefläuft, und reagieren darauf."
Na, wenn das nicht Munition für Kritiker Israels ist!
Genauso legte man in den deutschen Plädoyers besonderen Wert darauf, dass auch die Bundeswehr direkt keine Rüstungsgüter liefert, mit denen Zivilisten getötet werden können, dies das letzte Mal im Oktober getan habe und das meiste eh nur für Forschungs- und Übungszwecke gedacht sei.
Wie sich das mit den unveränderten verbalen Solidaritätsbekundungen für Israel aus dem Munde deutscher Politiker, etwa von Außenministerin Annalena Baerbock, verträgt, dürfte nun beide Seiten – Israelkritiker wie Israelfreunde – glühend interessieren. Irgendetwas ist geheuchelt, entweder die Völkerrechtstreue Berlins, die zu den vorstehend visualisierten Entwicklungen führt, oder die allgegenwärtigen Treueschwüre für Tel Aviv.
Die alles entscheidende Frage (von juristischen Formalitäten abgesehen, an denen Nicaraguas Klage bei Bedarf auch jederzeit scheitern kann) ist nun, ob die Richter des IGH den Mut haben auszusprechen, dass die Pflicht, Völkermord zu verhindern, zu mehr verpflichtet, als nur keine Beihilfe zu leisten.
Was Berlin alles in anderen Fällen zu tun bereit ist, zeigt ja ganz aktuell sein Vorgehen gegen Russland. Wohlgemerkt gegen das Russland, gegen das der Genozidvorwurf wegen seines Handelns in der Ukraine nur in der massenmedialen Propaganda des Westens erhoben wird. Gegen das Russland, das in gleich zwei vorläufigen Entscheidungen der internationalen Richterbank eine weitaus bessere Beurteilung erhalten hat, als von seinen Feinden angestrebt und von seinen Freunden befürchtet.
Erinnern wir uns: Das israelische Vorgehen im Gazastreifen hat schon jetzt, nach sechs Monaten, dreimal mehr Zivilistenleben allein unter den Palästinensern gefordert als der Krieg in der Ukraine in zwei Jahren auf beiden Seiten. Doch wo sind Sanktionen Deutschlands gegen Israel? Wo ist nicht nur das Herunterfahren neuer Genehmigungen für Rüstungsexporte, sondern der Stopp der Ausführung aller früher genehmigten Exporte? Wo ist der Druck auf Tel Aviv mit wirtschaftlichen Mitteln, mit der Streichung direkter Flüge, dem Verbot von Banküberweisungen? Wo ist die deutliche verbale Schelte?
All das, mindestens das, kann der IGH einfordern, wenn er Artikel 1 der Völkermordkonvention als die Pflicht zum aktiven Handeln gegen einen beginnenden Völkermord auslegt. Das Verfahren Nicaragua gegen Deutschland bietet dazu trotz aller Schwächen der Klage die passende Gelegenheit. Wir werden sehen, ob das Gericht sie nutzen will.
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