"Die Niederlage des Westens" – Französischer Denker Emmanuel Todd schreibt Bestseller
Von Elem Chintsky
Die Titel der europäischen Sachbücher werden dieses Jahr etwas unmissverständlicher. So kam im Januar 2024 ein Werk des französischen Anthropologen, Historikers und Soziologen Emmanuel Todd namens "Die Niederlage des Westens" heraus – im französischen Original: "La Défaite de l’Occident".
Auch die polnische, wertekonservative Tageszeitung Myśl Polska machte bereits auf den französischen Bestseller aufmerksam.
Nicht gerade ein Buch, auf das sich jetzt in Deutschland Springer, die Klett-Gruppe, der Deutsche Fachverlag oder Random House stürzen werden, um die Rechte für eine deutsche Übersetzung zu ergattern. Aber eine erste kleine Rezension in deutscher Sprache wird sicherlich von gewissem Vorteil sein.
Der relevanteste Dreh- und Angelpunkt für Todds retrospektive Analyse ist der Ukrainekrieg, der dort seit 2014 und verstärkt seit 2022 geführt wird. Außerdem werden eindringliche Statistiken aus den Dekaden nach 1991 herangeführt, die damals schon eine ideologische Spaltung der West- und Ostukraine deutlich machten, unter anderem die Wahlergebnisse von Präsident Viktor Janukowitsch aus dem Jahr 2010 im zweiten Wahlgang.
Zahlen lügen nicht, wenn man aufmerksam ist. Emmanuel Todd fabuliert nicht. Stattdessen erläutert er, dass seit der Ära Putins – also circa seit dem Jahr 2000 – bis ins Jahr 2017 die Todesrate in Russland durch Mord von 28 auf 6 Personen, durch Selbstmord von 39 auf 13 und durch Alkoholismus von 25 auf 8 (jeweils pro 100.000 Einwohner) gesunken ist. Das sind dramatische Verbesserungen. Todd geht noch weiter, indem er sagt, dass diese Erfolgsgeschichte für die Ukraine in derselben Zeit so nicht zu verbuchen war – und das, obwohl die Ausgangslage für die Ukraine nach 1991 um einiges vorteilhafter war, als die um Längen katastrophalere in Russland.
Teilweise geht der Anthropologe weit ins 19. Jahrhundert zurück und erforscht die Unterschiede von "Kleinrussland", die heutige Zentralukraine, und "Neurussland", welches heute im Donbass und der Ostukraine entlang der Schwarzmeerküste lokalisiert ist. Seine These ist, dass die klassische "Kernfamilie" unter Kleinrussen, den heutigen Ukrainern, weniger Teil der Gemeinschaft war, dass "das Individuum unabhängiger, die Frau freier, die Familie weniger zusammengedrängt" war. Diese identifiziert Todd als Grundaffinitäten, die später – also im Verlauf des 20. Jahrhunderts – von einem "westlichen Liberalismus" besser abgeholt werden könnten und letztlich auch wurden. Bezüglich dieser Neigungen verhält es sich bei den Neurussen, welche heute in großer Mehrheit in der Ostukraine leben und ihr Volksschicksal zivilisatorisch im Orbit Russlands verorten, ganz anders.
Beide leicht voneinander abweichenden Familienmodelle waren jedoch explizit "patrilinear", also traditionell "der väterlichen Linie" beziehungsweise einem "vaterrechtlichen" Prinzip folgend, weshalb Todd schlussfolgert, dass gewisse Reform-Forderungen des Westens an das Kiewer Regime wie die Kodifizierung der LGBTQ-Genderideologie selbst in der Westukraine nur schleppend vorangehen – nämlich ausschließlich mit sprunghaften Gesetzeserlassen, forciert von oben durch Präsident Selenskij. Der US-amerikanische Journalist Scott McConnell schrieb dahingehend zu Todds Ausführungen im neuesten Buch Folgendes:
"In seiner arroganten Selbstsicherheit, die internationale Moral zu verkörpern, hat der Westen 'nicht verstanden, dass er für den größeren Teil der Welt, der patrilinear, homophob und in der Tat gegen die westliche moralische Revolution ist, verdächtig geworden ist'. Russland zu beschuldigen, skandalöserweise gegen LGBTQ zu sein, bedeutet Putins Spiel zu spielen. Russland weiß, dass seine homophobe und transfeindliche Politik den Rest des Planeten keineswegs verprellt, sondern ihm 'eine beträchtliche Soft Power verleiht'. Die revolutionäre Soft Power des russischen Kommunismus, die einst große Teile der europäischen Arbeiterklasse ansprach, 'ist der konservativen Soft Power der Putin-Ära gewichen'."
McConnell vermutet generell einen "gemäßigten Liberalismus" bei Todds eigener Position, rechnet ihm aber die Einsicht hoch an, dass bei Transgeschlechtlichkeit der Globale Süden zurecht die äußerste "Linie im Sand gezogen hat". Wenn Washington D.C., London, Paris, Brüssel und Berlin behaupten, dass ein biologischer Mann zu einer Frau werden kann und eine biologische Frau zu einem Mann, stellt sich die Grundsatzfrage, ob "das Festhalten an einem Kult der Lügen" die Vereinigten Staaten als militärischen Verbündeten und diplomatischen Partner glaubwürdig macht?
"Es ist eine Affirmation der Unwahrheit", so Todd weiter.
Dieses dichte Mosaik an dickköpfigen Trugschlüssen auf axiomatischer Ebene definiert den gegenwärtigen, westlichen Nihilismus: ein Begriff, den Todd zur Beschreibung des neuen amerikanischen Ethos nutzt.
Die Völker des Westens bejahen diese neuen Normen mehrheitlich – des selbstständigen Infragestellens befreit, grinsend und in einem durch nichts mehr gedeckten Überlegenheitsgefühl desorientiert. Der westliche Nihilismus trug indessen dazu bei, seine Subjekte zu konformistischen Geiseln selbst verschuldeter, pluralistischer Ignoranz zu konvertieren.
Obwohl dieses Fazit also zu offensichtlich erscheint, ist genau hier die moralische Bankrotterklärung des Wertewestens für den Globalen Süden und Russland evident und sichtbar – jedoch noch lange nicht für den Westen selbst, der sich zurzeit noch als krypto-kolonialistischer Heilsbringer identifiziert. Deswegen wartet der Westen stur, bis Russland "aufgibt, seine Niederlage in der Ukraine eingesteht, zugibt, dass die historisch vernichtenden Sanktionen gewirkt haben", während Hunderttausende Ukrainer auf dem Altar der westlichen Stumpfsinnigkeit unnötig geopfert werden müssen.
Sein Buch schließt Todd mit dem Kapitel "Amerikanischer Nihilismus" ab, womit er den obigen Begriff noch einmal konkretisiert. Die Kronzeugen dessen seien seit Ende Oktober 2023 die Bewohner des Gazastreifens. Der Pariser Anthropologe spricht von "Washingtons Vorliebe für Gewalt in ihrem rohen, triebhaften Zustand", welche als vermeintliche Diplomatie, "sofort für eine Verschärfung des Konflikts" im Gazastreifen eintrat.
Todd merkt die Infantilität der US-amerikanischen Führung an, die sich keine große Mühe mehr zu geben scheint, moralische Überlegenheit zu projizieren:
"Joe Biden reiste […] zu einem Solidaritätsbesuch nach Tel Aviv und hielt nach seiner Rückkehr am 20. Oktober eine kindlich einfache Rede: Hamas = Putin, Israel = Ukraine."
Genau diese narrativen Schablonen funktionieren noch halbwegs gut im Westen selbst, werden aber im Globalen Süden und Russland als obsolet und vollkommen unzureichend für die Beschreibung geopolitischer Wirklichkeiten verworfen. Das unter Dauerbelastung stehende Medien-Establishment im Westen scheint sich über jede Gelegenheit einer Galgenfrist zu freuen, denn Todd merkt an:
"Die westliche Presse, die uns monatelang mit der Illusion einer siegreichen ukrainischen Gegenoffensive gefüttert hatte, war zweifellos erleichtert, dass sie ihre Aufmerksamkeit auf diesen neuen Krieg richten musste."
Der französische Historiker, der aufgrund der Neugeborenen-Sterblichkeitsrate 1976 als junger Gelehrter den Kollaps der Sowjetunion vorhersagte, und später in seinem Werk "Weltmacht USA: Ein Nachruf" (2002) den Zerfall des US-amerikanischen Imperiums prognostizierte, nutzt den Nihilismus-Begriff erneut im zivilisatorischen Kontext des Dranges nach nationalen Selbstzerstörung, als er argumentiert:
"Was die USA betrifft, so erlaubt uns das Konzept des Nihilismus eine weitergehende Interpretation: Ihr unüberlegtes und ungeschminktes Engagement an der Seite Israels ist ein Selbstmordsymptom."
Die ständigen Vetos der USA in der UNO-Generalversammlung zu verschiedenen Waffenstillstandsresolutionen im Gazakrieg beurteilt Todd als "nihilistisch", denn "es verwirft die gemeinsame Moral der Menschheit".
Schon alleine der französische Wikipedia-Artikel Todds ist bezeichnend dafür, dass die im Westen "kontroversen" Thesen des Soziologen stark umkämpft werden. Hier die Warnung:
"Beitragende sind verpflichtet, sich nicht an einem Editierkrieg zu beteiligen, da sie sonst gesperrt werden.
Auf dieser Seite gab es kürzlich einen Editierkrieg, bei dem mehrere Beitragende gegenseitig ihre jeweiligen Bearbeitungen widerrufen haben. Dieses nicht kollaborative Verhalten wird durch die 'Drei-Widerrufe-Regel' untersagt. Im Falle einer redaktionellen Meinungsverschiedenheit müssen sie diese diskutieren und einen Konsens finden, bevor sie weitere Änderungen zum selben Thema vornehmen."
Wie soll aber im Westen ein "kollaborativer Konsens" je wieder gefunden werden, wenn man nicht einmal mehr weiß, was eine Frau und ein Mann sind?
Elem Chintsky ist ein deutsch-polnischer Journalist, der zu geopolitischen, historischen, finanziellen und kulturellen Themen schreibt. Die fruchtbare Zusammenarbeit mit RT DE besteht seit 2017. Seit Anfang 2020 lebt und arbeitet der freischaffende Autor im russischen Sankt Petersburg. Der ursprünglich als Filmregisseur und Drehbuchautor ausgebildete Chintsky betreibt außerdem einen eigenen Kanal auf Telegram, auf dem man noch mehr von ihm lesen kann.
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