"Es ist wie 1914" ‒ Joschka Fischer im Interview zur aktuellen Weltlage
Der Artikel der italienischen Zeitung Corriere della Sera erklärt einleitend zum Interview mit Fischer, dass laut Einschätzung des deutschen ehemaligen Außenministers "titanische diplomatische Bemühungen" erforderlich seien, um die aktuell weltweit angespannte politische Situation zu beruhigen. Israel hätte demnach "keine andere Wahl, als militärisch zurückzuschlagen, um seine Abschreckungsfähigkeit wiederherzustellen", erläutert Fischer. Er hätte laut dem Artikel bei seinen Äußerungen "ein Wort nach dem anderen abgewogen", um bezogen auf den Gaza-Israel-Konflikt klarzustellen, dass für ihn "die gesamte Region an den Rand eines allgemeinen Konflikts gedrängt" werde. Er sei daher "sehr besorgt und pessimistisch".
Fischer erläutert demnach weiter zur gegenwärtigen Situation der weltweiten Ereignisse:
"Es ist schwer, nicht an das Jahr 1914 zurückzudenken, als die Ereignisse eine unkontrollierbare Wendung nahmen und den Ersten Weltkrieg auslösten."
Der Ukraine-Krieg sei dabei für Fischer "nur der erste Dominostein, der die Pax Americana ‒ nach historischen US-Vorstellungen geregelte Friedensordnungen ‒ nach 1945 endgültig untergräbt" und dabei eine "neue geopolitische Polarisierung auslöst", bei der "niemand am Ende gewinnen" könnte. Zwischen dem Krieg in der Ukraine und dem derzeitigen Krieg im Gazastreifen gibt es laut Fischer eine für ihn "auffällige Parallele":
"Beide haben im Kern einen existenziellen Kampf um das Überleben eines Nationalstaates."
Fischer erläutert weiter, dass er dem Iran unterstellt, bei den Ereignissen vom 7. Oktober "eine entscheidende lenkende und unterstützende Rolle gespielt" zu haben. Daraus resultierend hätte Israel "keine andere Wahl" gehabt, als militärisch zu reagieren, "um seine Abschreckungsfähigkeit wiederherzustellen", auch wenn dies "viele Menschenleben" kosten würde und "den Hass zwischen beiden Seiten noch weiter schürt".
Beide Konfliktsituationen, Ukraine wie Gaza, würden daher für Fischer aktuell zeigen, dass "wir Zeugen der Entstehung einer neuen Weltordnung sind", in der der Westen auf der Seite von Kiew und Tel Aviv stehen würde, während "Mächte wie China und Russland sowie fast der gesamte sogenannte globale Süden" auf der Gegenseite stünden. Fischer betont dabei wörtlich:
"Das ist eine Dynamik, die der Westen einfach nicht akzeptieren kann."
Es seien daher politische Anstrengungen vonnöten, bei denen "die Forderung nach Anerkennung und einem Platz am Tisch" aus dem Blickwinkel des Globalen Südens "berücksichtigt werden muss". Fischer fasst zusammen:
"Nicht zuletzt wächst die Gefahr einer militärischen Konfrontation im Chinesischen Meer und in der Straße von Taiwan, in die die Supermächte USA und China direkt verwickelt werden könnten."
Kritisch und aufmerksam zu beobachten seien zudem weitgreifend betrachtet für Fischer "schwelende potenzielle Kriegsherde" im Kaukasus zwischen Aserbaidschan und Armenien, auf dem Balkan zwischen Serbien und dem Kosovo, wie auch in Afrika in der Sahelzone, "wo eine Reihe von Militärputschen und der strategische Rückzug Frankreichs die Region ins totale Chaos gestürzt" habe. Fischer kommentiert abschließend mit einem Erfahrungswert seiner politischen Vergangenheit:
"Versuche, das globale Machtgleichgewicht zu verschieben und eine neue internationale Ordnung durchzusetzen, sind noch nie ohne Gewalt abgelaufen. Das macht die gegenseitigen Töne der Großmächte aggressiver und umso besorgniserregender."
Jene Länder, die "die Pax Americana herausfordern", also die aktuell schwächelnde USA, wollten dabei das aktuelle Washington lediglich ausnutzen:
"Der Wille der internationalen Gemeinschaft, den Status quo zu erhalten, hat erheblich nachgelassen. Der Ehrgeiz tritt an die Stelle der Vernunft, die einmal mehr zur Geisel nationalistischer und religiöser Leidenschaften wird."
Abschließend lobt Fischer laut Corriere della Sera-Artikel die für ihn "umsichtige und erfahrene Führung" von US-Präsident Joe Biden, den "viele wegen seines Alters belächeln würden". Fischer ist sich demnach sicher, dass ohne Biden "die Welt noch unsicherer und gefährlicher wäre, als sie ist".
Der Artikel gibt nicht zu Protokoll, warum oder in welchem Rahmen das Interview vereinbart wurde. Im Mai dieses Jahres zitierte ihn das ZDF mit der Wahrnehmung, dass "Europa dauerhaft von Russland bedroht" würde. Der Grundgedanke "Sicherheit vor Russland" werde für Fischer "die Zukunft bestimmen müssen". Fischer ist, soweit bekannt, seit dem Ende seiner politischen Karriere als gut dotierter Berater, Lobbyist und Buchautor tätig.
Im Jahr 2006 wurde Joschka Fischer mit der Ehrendoktorwürde der Universität Tel Aviv ausgezeichnet. Am 22. Oktober war Fischer als Teilnehmer der proisraelischen Kundgebung zum Thema "Aufstehen gegen Terror, Hass und Antisemitismus" in Berlin anwesend.
Im Dezember 2020 forderte er in einem NZZ-Interview "mehr militärisches Engagement von Deutschland und Europa". Zuvor wurde im Jahr 2018 bekannt, dass Fischer Mitglied eines "internationalen Beirats" des Unternehmens Tilray wurde. Die Firma gilt als "weltweiter Vorreiter bei Herstellung und Vertrieb von Cannabis".
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